Lateinamerikanisierung Europas?
Work in Progress
Das European Democracy Lab möchte sich in den nächsten Wochen und Monaten dem Topos einer schleichenden „Lateinamerikanisierung Europas“ widmen und dazu forschen und publizieren.
Wir sind der Überzeugung, dass Europa politisch, wirtschaftlich, sozial und geistig in einem kritischen Zustand ist und mithin unfähig, sich der wohl umfassendsten geopolitischen und geoökonomischen Zäsur zu stellen, die die Welt gerade durchläuft. Folgenden Fragestellungen wollen wir uns dabei widmen:
Steht Europa eine Lateinamerikanisierung seiner politischen Verhältnisse bevor? Und wenn ja, was beschreibt der Begriff überhaupt? Zunächst beschreibt er das Abgleiten eines einst leistungsfähigen am Allgemeinwohl orientierten Staates auf ein deutlich niedrigeres Entwicklungsniveau. Tatsächlich haben solche Rückstufungen des Entwicklungsgrades von ganzen Ländern im 20. Jahrhundert besonders häufig in Lateinamerika stattgefunden. Deutlich wird dies am Beispiel Argentiniens, das zwischen 1860 und 1930 ein enormes Wirtschaftswachstum vorzuweisen hatte, das erreichte Niveau einer entwickelten Industrienation bis in die Mitte der 50er Jahre halten konnte, dann aber in eine Phase des Niedergangs eintrat, die mit kurzen Unterbrechungen bis heute andauert. Gegenwärtig durchläuft das Land eine dramatische Inflation. Teile der Bevölkerung haben Probleme sich angemessen zu ernähren.
Der Abstieg Argentiniens spiegelt nur in besonders drastischer Weise den Niedergang ganz Lateinamerikas wider. Diese Rückstufung eines ganzen Kontinents ist die Folge eines einmal zugelassenen und danach immer weiter fortschreitenden Souveränitätsverlustes. Bereits 1823 hatten die USA im Zuge der Monroe Doktrin Lateinamerika zu ihrer Einflusszone erklärt, ein Schritt der sich anfangs noch gegen den europäischen Imperialismus richtete, doch im 20. Jahrhundert immer deutlicher zu einem US-amerikanischen Imperialismus wurde. Für die Staaten Lateinamerikas wurde es immer schwieriger ihre eigenen Interessen vor US-amerikanischer Einmischung zu schützen. Der Kontinent wurde zu einem Testfeld für neoimperiale Machttechniken, die die USA hier geographisch weit entfernt von ihrem Hauptkonkurrenten, der Sowjetunion, erproben konnten. Man begann in Mittelamerika, in Guatemala, Costa Rica, Haiti und der Dominikanischen Republik und setzte die dort erprobten Machttechniken später bei den größeren Staaten, wie Ecuador (1961/63), Brasilien (1964), Peru (1968), Bolivien (1971), Uruguay (1973), Chile (1973) und Argentinien (1976) um. Dabei baute man Beziehungen zum Militärapparat des Ziellandes aus und verwendete einige ihrer Einheiten zur Durchführung eines Putsches. 1964 wurde der brasilianische Präsident João Goulart gestürzt, weil seine linke Regierung eine unabhängige Außenpolitik für sich beanspruchte. In Brasilien operierte man erstmals mit Todesschwadronen. Besonders dreist ging man in Chile vor, wo am 11. September 1973 der demokratisch gewählte Präsident Salvador Allende erschossen und viele Mitglieder in den darauffolgenden Wochen und Monaten ums Leben kamen. Nach der Phase der Verhaftungen, Entführungen und Hinrichtungen wurde dem Land die erste neoliberale Schocktherapie auferlegt. Chile wurde zum Modell für die spätere Deindustrialisierung sowohl anderer Staaten Lateinamerikas als auch Osteuropas. Unvergessen ist auch Operation Condor, eine Zusammenarbeit der Geheimdienste Argentiniens, Brasiliens, Paraguays, Chiles, Uruguays, Boliviens, die technisch von den USA unterstützt wurde, und die darauf abzielte die Oppositionellen dieser Länder auszuschalten. Die Opfer gehen in die hunderttausenden.[1] Der Autor William Blum hat in seinem Buch "Killing Hope - US Military and CIA Interventions since World War II" [2] eine lange Liste solcher Interventionen im Detail beschrieben.
Auf unsere heutige Zeit übertragen würde der Begriff Lateinamerikanisierung wohl nicht mehr auf Staatsstreiche nach dem Muster Brasilien 1964 oder Chile 1973 hinauslaufen. Die Zeit solcher offenen Machtdemonstrationen passt nicht mehr zu einer Welt, in der Macht vorrangig eine psychologische Dimension angenommen hat und vor allem über die Medien und PR-Techniken ausgeübt wird. Wohl aber beschreibt der Begriff einen Prozess des Souveränitätsverlustes, der über mehrere Stufen verläuft, mit einem Informations- und Orientierungsdefizit der Regierung beginnt, zur Auslagerung politischer Entscheidungen führt und schließlich in Schulden- und Währungskrisen einmündet, durch die die Regierung derart handlungsunfähig wird, das entweder eine militärische Fraktion oder kriminelle Netzwerke aus dem Drogen- und Waffenhandel immer stärkeren Einfluss gewinnen. Ein Land ist lateinamerikanisiert, wenn der Wohlstandsverlust sich so dramatisch entwickelt, dass ein großer Teil der Beamten und Entscheidungsträger korrumpierbar wird. Dies wiederum erlaubt es ausländischen Akteuren, vermittelt über die so entstandene Verwundbarkeit seiner Bevölkerung direkten Einfluss im Land zu übernehmen. Insofern der Souveränitätsverlust wiederum Bedingungen für fortschreitende Einflussnahme schafft, hat er eine sich selbst verstärkende Wirkung. Ja, man könnte sagen, dass es auch beim Souveränitätsverlust ähnlich wie bei einem Schwarzen Loch einen Art Ereignishorizont gibt, bei dessen Überschreiten die Entwicklung nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.
Dass ausgerechnet Lateinamerika zum Sinnbild einer solchen Entwicklung wurde, mag auch damit zusammenhängen, dass alle Nationen Lateinamerikas relativ jung sind und deshalb kaum über eine eigene Geschichte von Staatlichkeit verfügen. Dadurch fehlte es den Ländern Lateinamerikas an Widerstandskraft gegen Versuche der äußeren Einmischung. Auch in Europa gibt es Regionen mit einer schwach entwickelten Geschichte von Staatlichkeit, wie etwa den Balkan oder die Ukraine. Nicht zufällig sind es vor allem diese Regionen, die in den letzten drei Jahrzehnten immer wieder ins Chaos abgeglitten und sogar zu Kriegsschauplätzen wurden. Auch Russland befand sich in den 1990er Jahren in einer fortschreitenden negativen Entwicklungsdynamik, die zu einer massiven Deindustrialisierung sowie einer Verarmung der Mehrheit der Bevölkerung geführt hatte und eigentlich in eine Lateinamerikanisierung hätte einmünden müssen. Der amerikanische Geostratege Zbigniew Brzezinski beschrieb in seinem 1997 veröffentlichten Buch "The Grand Chessboard (auf deutsch "Die einzige Weltmacht") Russland als Schwarzes Loch, womit er andeutete, dass er damals glaubte das Land hätte den Ereignishorizont hin zum totalen Souveränitätsverlust bereits überschritten.[3] Doch anders als in der Ukraine und auf dem Balkan gab es in Russland eine starke Tradition von Staatlichkeit sowie ein ausgeprägtes historisches Bewusstsein der Bevölkerung, die zu einer Unterbrechung des Prozesses geführt haben, sehr zur Enttäuschung Washingtons, wo man bereits ein Auge auf die schier unerschöpflichen Rohstoffreserven dieses Riesenlandes geworfen hatte.
Ob Europa als Ganzes eine Lateinamerikanisierung droht ist somit letztlich von der Frage abhängig, wie stark das historische Bewusstsein und die staatlichen Traditionen in Europa heute noch sind. Zweifellos hat das postmoderne Lebensgefühl vom Ende der Geschichte und der Subjektivierung von Wahrheit bereits viel Widerstandskraft neutralisiert. Kann das politische Bewusstsein der Völker Europas angesichts dessen einen fortschreitenden Souveränitätsverlust rechtzeitig erkennen und unterbinden? Oder werden wir langfristig mit der Balkanisierung und Ukrainisierung weiter Teile Europas konfrontiert sein? Bis zu welchem Grad werden sich die Eliten der EU zum persönlichen Vorteil und zu Lasten Europas korrumpieren lassen? Oder sind am Ende das historische Bewusstsein und die staatlichen Traditionen doch so stark im öffentlichen Bewusstsein verankert, dass ab einem bestimmten Punkt des Niedergangs ein Gegentrend eingeleitet werden wird? Diese Fragen sind im Moment noch offen, werden aber bereits in zwei, drei Jahren entschieden sein. Denn die nächsten Jahre entscheiden, welchen Weg Europa gehen wird: den der Selbstständigkeit, der Entwicklung und des Wohlstands oder den des Souveränitätsverzichts, der Deindustrialisierung und der Armut. Denn eines steht bereits jetzt fest. Für den Verzicht auf Souveränität muss ein hoher Preis gezahlt werden. Er führt immer und geradezu mit Notwendigkeit auch zum Verlust von Wohlstand und Stabilität. Wer sich einer fremden Macht ausliefert, wird von dieser zum eigenen Vorteil verwendet und benutzt. Wie die USA mit ihren Kolonien umgehen, davon zeugt die blutige und tragische Geschichte Lateinamerikas. Die Vorstellung, Europa könne einerseits wohlhabend und andererseits der Hinterhof der USA sein, ist eine Fiktion.
Ausgehend von dieser Analyse wollen wir dann in einem zweiten Schritt die Frage nach der Möglichkeit einer europäischen Souveränität und Emanzipation jenseits der EU stellen: ist diese noch möglich, ist sie politisch gewünscht, wie müsste sie aussehen?
Die BRICS-Staaten werden in absehbarer Zeit über
- Mehrheiten in den Gremien der globalen UN-Architektur (Südafrikas Klage gegen Israel vor dem ICC ist ein deutlicher Schritt der politischen Emanzipation des Globalen Südens);
- billige Arbeit
- Rohstoffe
- und ¾ der Weltbevölkerung verfügen,
- dazu über ein eigenes Währungssystem als Pendant zum SWIFT sowie
- über ein intra-BRICS-Trading System
Demgegenüber beruft sich der sog. „WerteWesten“ auf eine bisher nicht kodifizierte „regelbasierte Ordnung“ und ist im Wesentlichen von einem überschuldeten Dollar-System abhängig.
In dieser Situation ist für Europa die Frage aufgeworfen, wo es sein möchte: innerhalb der roten Linie der Karte unten, oder Eurasien zugeordnet, also in einem interessensgeleiteten Austausch auf Augenhöhe mit den großen Mächten wie China, Indien, Iran und Russland stehen, die gerade mit rasanten Geschwindigkeiten auch die Länder des globalen Südens für sich erobern.
Die Frage nach www.Europa2049.eu ist damit aufgeworfen:
Lateinamerikanisierung Europas oder europäische Emanzipation!
Wir werden die Konturen dieses Projektes bald präzisieren: unterstützen Sie unsere Arbeit! Nie war es dringender, über die Zukunft Europas nachzudenken!
Quellen
[1] Man geht von 50.000 Ermordete, 400.000Gefangenen und 350.000 Vermissten aus. https://web.archive.org/web/20230325172134/http://www.tagesschau.de/ausland/meldung77018.html
[2] William Blum, Killing Hope - USMilitary Inerventions since World War II, London 2014
[3] Vgl.: Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht,Berlin 1997, S. 130 ff.